Das wärs gewesen

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Das wärs gewesenPannonia P350 von 1971 


VON IMRE PAUlOVITSi FOTOS: TIBOR MOLOVAl, IMRE PAUlOVITS, ARCHIV LACKNER, MOLOVAl, VÖRÖS

Quelle: Motorrad Classic 1/1998

Das schlürfende Ansauggeräusch des Zweitakters verschmilzt mit dem heiseren Bellen aus den beiden Auspufftöpfen zu einem wilden Fauchen.
Der 350er Zweizylinder reißt das Motorrad nach vorn. Zweiter, dritter, vierter GangSchub und Drehfreude wollen nicht nachlassen. Vor der Kehre zwei Gänge zurück: Leichtfüßig lenkt das Motorrad ein und setzt hart mit dem Seitenständer auf.

Funkensprühend geht's ums Eck, dann wieder Fauchen und Dampf satt Nein, es ist kein [aparter; Keine Yamaha DS 7 oder RD 350 und auch keine Kawasaki A 7, die wir zu einer Ausfahrt baten. Es ist etwas viel selteneres: eine Pannonia P350, stahlgewordenes Zeugnis des letzten Aufbäumens ungarischer Motorradingenieure, bevor die Parteioberen ihnen das Licht ausdrehten. 

Dass sich einer der Prototypen heute viel besserer Gesundheit erfreut als die ungarische Industrie, ist Päl Lackner, einem der damaligen Entwicklungsingenieure zu verdanken. Er hat das seltene Stück zwei Sekunden vor zwölf aus einem KeIlerverließ befreit, restauriert und seither bei so mancher Veteranen-Veranstaltung für Furore gesorgt "Bei allen Rennen, die ich in den letzten beiden Jahren mitgefahren bin, hatte ich die schnellste 350er. Damit hat sich im Nachhinein bestätigt, was wir damals behauptet haben: Die P350 wäre von der Leistung her gesehen in ihrer Klasse voll konkurrenzfähig gewesen", erzählt der heute 54-jährige. "Und dabei hätten wir das Motorrad fast komplett auf den vorhandenen Fertigungsanlagen produzieren können."
Als Basis dienten der Motor und das Fahrwerk der 250er P20. Dieses Motorrad, 1966 entworfen und ab 1968 gebaut, war im Grunde eine Yamaha DS-Kopie, wenn auch mit einigen wesentlichen Änderungen. Das Fünfgang- Kassettengetriebe war ein Beispiel, es ließ sich nach Lösen von sechs Schrauben mitsamt dem Schaltmechanismus herausnehmen. Und es hatte ein eigenes Schaltschema: Leerlauf ganz unten, Gänge eins bis fünf dann nach oben. Praktisch auch der Aufbau des Kurbeltriebs, bei dem die äußeren Lager der aus zwei Einzelwellen aufgebauten Kurbelwelle einen mit sechs Schrauben im Motorgehäuse eingeschraubten Leichtmetall-Ring als Sitz hatten. Die Demontage war somit einfach, Kurbelwellenlager und Kurbelwelle konnten nach Lösen dieser Schrauben bei eingebautem Motor herausgenommen werden.
Der schlitzgesteuerte P20-Motor hatte 56 mm Bohrung und 50 mm Hub, dies wurde bei der 350er auf 62 und 54 mm geändert, was 324 cm3 Hubraum ergab. Der Hubzapfen konnte auf der Kurbelwange problemlos nach außen versetzt werden, doch für die größeren Zylinderbohrungen reichte der Platz dazwischen nicht. Und der Primärantrieb sollte unverändert übernommen werden. So behalf sich Motoren-Techniker Läszlö Sägi eines Kunstgriffes: Er beließ die linke Hälfte des 250er Gehäuses abgesehen von der Bohrungserweiterung unverändert und versetzte nur den rechten Zylinder, Dadurch ist der Motor asymmetrisch nach rechts versetzt. "Dies sieht man aber nur, wenn man es weiß, und auch beim Fahren fällt nicht auf, dass der Motor nach rechts hängt", so Lackner. Die beiden Zylinder und die Auspuffkrümmer mussten hierfür jedoch unterschiedlich geformt werden. Ich hatte beim Restaurieren meine liebe Not, weil gerade der rechte Zylinder und Krümmer gefehlt haben."
Auch das Fahrwerk wurde von der 250er übernommen, Tank, Sitzbank und Seitendeckel jedoch neu gezeichnet. Mit ihrer violett-goldenen Metallic-Lackierung mag die Pannonia heute vielleicht etwas schrill daherkommen, aber beim gedanklichen Zeitsprung zurück in die Glamourrock-Ära von Sweet und T-Rex wird klar, wie richtig die Ungarn beim Design lagen. Westliches Pop-Kulturgut unterlag damals übrigens strengster Zensur, die Entwicklungsingenieure waren aber aufgeweckte Burschen und bestens informiert.
Auf dem ungarischen Markt gab es damals freilich gar keine Metallic-Farben zu kaufen. "Die Csepel Fahrradwerke fertigten aber Zehntausende von Fahrrädern für den Export nach Holland und Belgien. Das waren Auftragsarbeiten von holländischen Herstellern. Die Drahtesel wurden nach deren Vorgaben montiert, mit den Herstellerschildern der Holländer versehen und verschickt Die Farben kamen aus Holland, deshalb ließen wir die Teile der P350 in der Fahrrad-Lackiererei färben." Mit einem Schmunzeln fügt Lackner die Anekdote seiner privaten P20 hinzu: "Als Werksangehöriger konnte ich offiziell über den Vertrieb ein Motorrad bestellen, das dann nach meinen Vorgaben lackiert und ausgestattet wurde. Dann kam es zum Händler. So war meine P20 Metallic-Blau mit handgezogenen silbernen Zierstreifen, hatte eine Ceriani-Gabel und Fontana-Bremsen aus der Rennabteilung. Und das alles zum Listenpreis. Weil diese Art Motorräder aber überhandnahmen, wurde diese werksinterne Regelung bald geändert."

MotorAuch die Entwicklungsabteilung durfte sich erlesenerer Teile bedienen als die Serienfertigung. Die Vergaser der Serienmodelle waren Mikuni oder Bing-Nachbauten, die vom Feinmechanischen Zulieferbetrieb in Eger kamen. Lichtmaschine, Regler und Zündung waren Mitsubishi Nachbauten des Kraftfahrzeugelektrischen Zulieferbetriebs AVF in Budapest, doch keines dieser Erzeugnisse hatte auch nur annähernd die Präzision und die Zuverlässigkeit der kopierten Originale. "Bei den Prototypen haben wir dann tatsächlich Bing-Vergaser und Mitsubishi-Elektrik verbaut, denn der Ärger mit den Serien teilen war bekannt Wir wollten uns bei den Probefahrten auf die Anfälligkeit der neuentwickelten mechanischen Teile konzentrieren." 

Wie dies ging, weiß Lackner noch ganz genau, war er doch damals auch einer der Testpiloten. "Alle Ingenieure bis hin zum Werksdirektor mussten Motorrad fahren und hatten ihre Dienstmotorräder. Selbst erproben hieß die Devise". Aus der Zeit, als er noch in der Fertigung für Qualitätskontrolle zuständig war, kann er dann auch so manches berichten, "Jedes Teil, das in der Serie geändert werden sollte, musste vorher über 10000 Kilometer getestet werden. In der Praxis hieß dies zweimal pro Tag die Strecke Budapest-Szeged und zurück, macht 800 Kilometer. Jeden Tag. Einmal musste ich im Winter das Lichtmaschinen-Antriebsrad testen, das der Parteisekretär wegen der Kosten als Neuerung aus Kunststoff machen ließ. In der Partei war er ganz groß, als Ingenieur eine Niete. Dass er da einen absoluten Mist vorgeschlagen hatte, wusste jeder, ich musste aber dran glauben und das Teil testen. Ich habe geschrien, als ich bei minus 16 Grad Celsius die zweite Tagesschleife fuhr, und erst kurz vor Szeged gab das Teil seinen Geist auf, Kilometerstand 8800. Weil es aber ein Entwurf des Parteisekretärs war, hieß es: Hat fast 10 000 Kilometer gehalten, also in Ordnung, Darauf ging ich auf die Barrikaden und erreichte, dass der Lauftest noch einmal wiederholt wurde. Da bin ich aber nicht mehr nach Szeged gefahren, sondern habe die Maschine den ganzen Tag auf der Motocross-Strecke in Farkasvölgy geprügelt, hier wurde mir wenigstens nicht kalt, und auf dem Rückweg ist das Teil meiner größten Freude kurz vor dem Werkstor zerbröselt. Kilometerstand 330. Dass der Parteisekretär danach nicht mehr mein Freund war, ist klar" Ohnehin war das, was in den Werksberichten zu lesen war und das, was wirklich geschah, zwei Paar Stiefel. , Wir wussten genau, dass das Werk geschlossen wird, wenn wir nicht ein Wunder vollbringen. Die Produktionskapazität erschöpfte sich fast völlig auf den Exportauftrag der Russen, und da hat das Werk auf jede Maschine 3000 Forint draufgelegt, damals ein Monatslohn.
Wir haben alles versucht, etwas zu verbauen, was sich in den Westen verkaufen lassen könnte, und versuchten etwas zu entwerfen, das den Russen gefiel und sich billiger produzieren ließ. Da haben wir in der Versuchsabteilung einen Prototypen nach dem anderen fertiggestellt. Alle waren um Welten besser als das, was bis dahin gebaut worden war. Gyula Szente hieß damals der Chefingenieur, Dr. Miklós Kovács sein Stellvertreter. Doch die hatten mit diesen Maschinen nichts zu tun, wenn es offiziell in der Partei auch hieß, sie hätten sie entworfen. In Wirklichkeit hat Läszlö Sägi die Motoren gemacht, Peter Begätl, ein ehemaliger Jagdflieger, die Fahrwerke."
So war die P350 1971 in Rekordzeit. entstanden: Von der ersten Zeichnung bis zum laufenden Motorrad vergingen ganze sechs Wochen. "Das Papiermodell für das Motorgehäuse hat der Sägi noch am selben Tag, an dem er im Betrieb mit der Zeichnung fertig war, abends zu Hause geklebt. Am nächsten Tag haben die Modellbauer die Gußrohlinge gefertigt und der Sägi hat selbst an der Fräsbank und am Bohrtisch gestanden und bei der Feinbearbeitung mitgeholfen." Gleichzeitig mit der P350 kam auch eine P 175, also eine halbierte P350. Das Fahrgestell war identisch, Tank, Sitzbank und Kotflügel ebenfalls, die Maschine jedoch - und auch da lagen die ungarischen Ingenieure voll im Trend - mit hohem Lenker und hohem Bügel hinter der Sitzbank im gerade aufkommenden Chopper-Look gestaltet.

Dieses Teil wurde dann zusammen mit der P350 am 21. Dezember 1971 der heimischen Presse und Händlerschaft vorgestellt. Doch die konnten mit diesen, ihrer Zeit auf dem ungarischen Markt weit vorauseilenden, Geräten nichts anfangen. So wurden dann auch gar keine Anstrengungen unternommen, sich die Meinung des westlichen Auslands einzuholen, darauf hatte die Entwicklungsmannschaft so gehofft. Drei P350 Prototypen hatten sie gebaut. Zwei mit lackierten, runden Kotflügeln, silbernem Rahmen und blauem Tank, und die Lacknersche Maschine. "Die anderen beiden sollten die Basisausführung darstellen, meine die Luxusausführung. Sie unterschied sich noch durch Auspufftüten, die dicker waren, größeren Bremsen und der dickeren Gabel von der Standardausführung.Motorad
Besonders auffällig ist die Chromqualität, die sich in dieser Güte selten an Ostprodukten fand. Fachkreise wissen, dass der beste Chrom der Weil aus Chile kommt. Es gab damals ein Austauschgeschäft mit Chile, die bekamen von uns Aluminium, wir Chrom, und den hatten wir gerade in der Fabrik, als die Teile der P350 dran waren. Deshalb hat der Chrom auch die 20 Jahre im Keller unbeschadet überstanden." Dass aber das Material darunter nicht ganz so gut ist, hat Lackner schmerzhaft erfahren müssen:
Beim ersten Einsatz des Prototypen nach der Restaurierung, beim Bergrennen in Visegräd, brach der Lenker. Lackner landete im Krankenhaus und konnte danach erneut mit dem Restaurieren beginnen.
Aber wie kam der Prototyp überhaupt zu ihm? "Die anderen beiden P350 wurden 1975 werksintern verkauft, sie existieren beide noch, sind aber völlig verschlissen. Die Luxus blieb im Werk und wurde von Ausstellungsraum zu Ausstellungsraum geschoben. Irgendwann wollte sich niemand mehr an den Motorradbau erinnern der Fahrradbau benötigte mehr Platz, und der Block, in dem sich die einstige Versuchs- und Rennabteilung befand, wurde hierfür geräumt. Sämtliche Prototypen und Rennmaschinen kamen in einen Kellerraum ohne Fenster. Als die Fabrikanlage dann völlig privatisiert wurde, musste auch dieser Raum irgendwann einmal geräumt werden.
Es gab einige Sammler, die schon eine ganze Weile hinter den Maschinen aus diesem Raum her waren und ständig beim Pförtner hausieren gingen. Der traute sich natürlich nicht, die Motorräder herauszurücken, aber als ihm am Räumungstag klar wurde, dass die Maschinen zum Schrottplatz gingen, wenn sie nicht sofort wegkämen - da hat er mich und zwei andere Sammler angerufen. Weil mir die P350 und die letzte Bol d´Or-Rennmaschine besonders nah standen, habe ich sie beide gekauft."
Da die Rennmaschine völlig zerlegt und unvollständig war, machte sich Lackner erst an die P350 ran. Doch auch hier gab es viel zu tun. Die Prototypen wurden im Keller systematisch geplündert. Insider wussten, welch exklusive Teile dran waren, und so haben sie sich mit Bestechungsgeldern Zugang verschafft. Die Mikuni- und Bing-Vergaser, die Mitsubishi-Elektrik und Ceriani-Gabeln waren besonders beliebt, da blieb nichts übrig. An der P350 fehlten außerdem noch die Motorendeckel, der rechte Zylinder samt Kolben und der rechte Auspuffkrümmer." Die Teile konnte Lackner jedoch nach fertigen. Was bis heute fehlt, sind der linke Seitendeckel, die Blinker und das Original-Rücklicht. "Für den Seitendeckel müsste ich eine Form fertigen, auf der ihn jemand dengeln kann. Die Blinker, die nach hinten und vorn strahlten und das Rücklicht kamen aus Italien. Ich habe beides nicht auftreiben können und stattdessen ein italienisches Rücklicht neueren Jahrgangs genommen. Aber früher oder später kommen auch diese Teile noch her."
Doch hätte die Pannonia auf dem westlichen Markt eine echte Chance gehabt? Nach der Probefahrt meinen wir: mit den richtigen Modifikationen in der Serienfertigung, entsprechender Oualitätssicherung und mit einem guten Marketing bei den Importeuren - ja.
Von den Fahrleistungen her ist die Pannonia mit einer Yamaha DS 7 zu vergleichen. Kräftiger, drehfreudiger Motor, handliches, aber etwas unstabiles Fahrwerk. Auch die große Duplex-Trommel hält nicht gerade das, was die Optik verspricht, das kann aber auch an den alten und schon ziemlich ausgelutschten Originalbelägen liegen. Die Schaltung ist etwas schwergängig, und beim Anfahren muss wegen des ungewohnten Schaltschemas umgedacht werden. Auch eine Getrenntschmierung hätte sicher nicht geschadet.
Aber leider hatten ja Pannonia und die Ingenieure keinerlei Chancen. So bleibt den Ungarn heute nur noch die Erinnerung - und dieser Prototyp.